Herbert Marcuse - Der eindimensionale Mensch
Während der Schulzeit bekam ich als junger unbedarfter Mensch von meinem Philosophielehrer, der in mir so etwas wie eine denkerische Begabung ausgemacht zu haben glaubte (womit er völlig daneben lag) außerhalb des Unterrichtes zwei Bücher "verordnet", die ich mal durchschaffen sollte. Das eine war das Werk von Umberto Eco über Semiotik. Den genauen Titel habe ich vergessen. (Und mir ist bis heute auch noch kein Licht darüber aufgegangen, was er mir damit sagen wollte.)
Das zweite war Herbert Marcuse "Der eindimensionale Mensch". Was er damit verfolgte, war mir dagegen von Anfang an klar. Ihm war aufgefallen, dass ich in meinen Aufsätzen immer Erich Fromm zitierte, von dem ich in meiner jugendlichen Unschuld vollkommen affektiert gewesen bin, besonders von "Furcht vor der Freiheit" und "Haben oder Sein". Jetzt wollte er mich mit Marcuse von dem - aus seiner Sicht - philosophieunwürdigen Populärwissenschaftler Fromm auf den Pfad der ernsthaft philosophischen Tugend zurücklotsen.
Das Unternehmen endete in einer totalen Pleite. Meine Aussage, mit dem Eco habe ich gar nichts anfangen können, nahm er noch einigermaßen zähneknirschend hin. Meine Äußerung zu Marcuse: "Nothing new - nichts, was bei Fromm nicht schon 1941 zu lesen gewesen wäre." brachte ihn dann vollends ins Grab. Jedenfalls konnte man an seinen Augen ablesen, wie der Glaube in mich schlagartig schwand oder um im Bild zu bleiben: wie der letzte Atemzug des Sterbenden im Raum verblich.
Die Wahrheit war einfach gewesen, dass ich Marcuse mit meinem noch rudimentären philosophischen Wissen damals gar nicht ganz erfassen konnte, ich hatte lediglich einen schwachen Eindruck von ihm gewonnen, den ich eben dann mal widergab. Ich konnte ja nicht schon wieder sagen - wie beim Eco - tut mir leid, ich hab`s nicht kapiert.
Kurz gesagt: bei mir blieb nur die Grundtendenz des Werkes haften (Was will uns der Autor damit sagen?) und ein paar Floskeln, die ich damals auch gleich unterstrich. Und die ich bis heute noch nicht vergessen habe. Alles in allem betrachtet, wusste ich damals aber weder etwas mit dem apophantischen Logos, noch mit Husserls Aussagenlogik, noch mit der Algebraisierung der Geometrie anzufangen.
Beim zweiten Lesen, vor kurzer Zeit, wusste ich immer noch nicht recht, zu was man das bei einer "Studie zur Ideologie der fortgeschrittenen Gesellschaft" unbedingt braucht. Zumindest ist mir aber klarer geworden, worum es Marcuse geht: 1. Der technische Fortschritt dient dazu, die Unterwerfung der Menschen unter ihre Arbeit zu intensivieren. (Auch hier nothing new: steht schon bei Ernst Jünger im Arbeiter,1932) 2. Die Steigerung der Lebensqualität entspricht einer Steigerung entfremdeter Arbeit. 3. Kernthese: Die Demokratie ist deshalb der bessere (totalere) Herrschaftsapparat im Dienste der Herrschenden als vorindustrielle Gesellschaftsformen, weil dort die Unterwerfung introjeziert ist.
Ich glaube aber heute noch, dass man, um diese Thesen glaubhaft darzulegen, keine 300 Seiten verbrauchen muss. Die Phänomene, die Marcuse weit ausholend, aus unterschiedlichen Perspektiven beschreibt, liegen auf der Straße, schreien in den Gassen. Man muss sie also nicht unbedingt aus einem phhilosophischen Garten pflücken. Die Diskussion mit einem ehemaligem Nokia-Bediensteten und jetzt Obdachlosen in eisiger Winternacht, gibt da eigentlich fast mehr her.
Eins möchte ich schon noch zur Sprache anmerken. Es ist teilweise das grauenhafteste Deutsch, das man sich vorstellen kann, das hier geschrieben wird. Da ich wie gesagt kein Marcuse-Spezialist bin, kann ich auch nicht sagen, woran das liegt, ob das also vielleicht nur ein Übersetzungsproblem ist?
Die Sprache von Fromm (1941) finde ich immer noch anschaulicher: "Das Gefühl der Isolation und Ohnmacht (gemeint ist: in der heutigen, amerikanischen Industriegesellschaft, d. Verf.)wird vom Durchschnittsmenschen nicht wahrgenommen. Er überdeckt es mit der Routine der Alltagstätigkeit, mit der Bestätigung und Anerkennung, die er in seinen privaten und gesellschaftlichen Beziehungen findet, mit seinem geschäftlichen Erfolg, mit allen möglichen Zerstreuungen, damit, daß er sich amüsiert, daß er Bekanntschaften schließt und ausgeht. Aber das Pfeifen im Dunkeln macht die Nacht noch nicht hell...
Wenn es ihm nicht gelingt, von der negativen zur positiven Freiheit zu kommen, muss er versuchen, der Freiheit ganz zu entfliehen.
Die bevorzugte Möglichkeit, die uns die Gesellschaft heute als Fluchtweg anbietet, ist die Unterwerfung unter einen Führer, wie das in faschistischen Ländern der Fall ist, oder die zwanghafte Konformität, wie sie in unserer eigenen Demokratie üblich ist."
Was ich allerdings weder bei Fromm, noch bei Marcuse, noch bei Adorno, noch bei Horkheimer, noch bei Bloch usw. je wirklich begriffen habe ist, warum die Konformität geringer und die Freiheit positiver oder höher ausgerechnet an den Universitäten sein soll, von denen man sich hofieren und bezahlen lässt, um dann als kleiner Spucker in die Gesellschaft hinein zu agieren und ihr die Leviten zu lesen. Ich denke, es ist durchgedrungen: es gibt kein richtiges Leben im falschen?
Marginalie: Was ich auch noch nie begriffen habe, wie es Sartre, der sich sehr für deutsche Philosophie interessiert hat, es vor dem Hintergrund der massiven Veröffentlichungen der Leute rund um das Institut für Sozialforschung und der beginnenden Kritischen Theorie etwa zur selben Zeit geschafft hat, mit seiner Freiheitstheorie das Volk zu vernebeln? Also in etwa: der Mensch kommt zur Welt und ist dann dazu verurteilt in Freiheit und Verantwortung sich selbst zu schaffen, quasi aus dem Nichts. Diese "Freiheit" in der Industriegesellschaft erscheint ja vor dem Hintergrund der kritischen Theorie als geradezu lachhaft. Theoretisch hätte Sartre mit diesen "old news" eigentlich keinen mehr hinter dem Ofen hervorlocken können. Das Gegenteil ist eingetreten.
Fazit: wichtiges philosophisches Werk, sollte man gelesen haben. Da hatte der Philosophielehrer schon irgendwie recht.
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