Allerheiligen in Guatemala

in #allerheiligen7 years ago (edited)

Ein bisschen verspätet, dennoch nicht weniger aktuell - Eindrücke aus Guatemala:

Der 1. November hat mein Weltbild völlig auf den Kopf gestellt. Seither frage ich mich nicht nur, ob nicht die Vergänglichkeit des Lebens das ist, was es so reizvoll macht, ich bin mir sogar sicher, dass es so ist. Ich hatte noch nie Angst vor dem Tod, nicht vor meinem und nicht vor dem anderer. Der Umgang mit dem Tod ist dennoch immer eine emotionale Gratwanderung. Ich glaube, ich habe jetzt einen Weg entdeckt, der meiner Mentalität entspricht, mir Raum zum Trauern lässt, aber mich gleichzeitig daran erinnert, das Leben jeden Tag zu genießen. Was ist passiert?
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Während in Deutschland die Kinder am Abend des 31.10. (Halloween) ihre Süßigkeiten verschlingen und stolz auf ihre Beute blicken, finden in Teilen des Landes WG-Partys statt, um das nächtliche Tanzverbot zu umtrinken - es ist in fünf Bundesländern Deutschlands ein stiller Feiertag. An Allerheiligen, dem 1. November wird dann den Seelen aller Heiligen gedacht, Gräber werden besucht und geschmückt. "Uns Papst", Benedikt der 16., sagte einmal: "Am Fest Allerheiligen blicken wir voll Dankbarkeit auf die große Schar der Gläubigen, die schon im Himmel an der Herrlichkeit Gottes Anteil haben. Wir alle sind berufen, auf dem Weg der Seligpreisungen Christus nachzufolgen, der uns in die ewige Heimat führen will. Dabei helfen uns die Heiligen durch ihr Vorbild und mit ihrer Fürsprache." Nun denn. Da ich den Großteil meines erwachsenen Lebens (lies: Partyjahre) in Bayern verbracht habe, gehörte ich dem Teil Deutschlands an, der nicht feiern durfte. In Guatemala wäre das undenkbar. Am 1. November wird auch hier der "dia de los todos santos" gefeiert - der Tag aller Heiligen. Aber wie! Ich komme auch jetzt aus dem Grinsen und Staunen nicht heraus.

Auf einer geteerten Straße führt der Weg an einer tristen Mauer entlang. Im Hintergrund lassen sich schon die ersten Grabsteine erkennen, ab und zu entdecken wir einen barrilete, einen kleinen Drachen, meist von Kinderhand gesteuert. Schon im Vorfeld war mir bekannt, dass hier der Totenkult ein anderer ist, der Umgang mit den Verstorbenen fröhlicher und bunter, als wir es aus Deutschland oder gar Europa kennen. Dennoch klappt mir beim Betreten des Friedhofs in Sumpango die Kinnlade runter:

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Überall Party, es wird geweint, gelacht, getanzt, gegessen, getrunken, gesungen, Freunde und Bekannte, Familien und Verwandte nehmen sich in den Arm - und überall fliegen Drachen. Dass dabei die verstorbenen Verwandten unter einem ruhen ist dabei nicht egal, sondern Hauptbestandteil der Feiern. Es wird gesagt, die Seelen nehmen an der Feier teil. Und ganz ehrlich, wäre ich gestern eine Seele vor Ort gewesen, ich hätte auch gefeiert. So bin ich aber umso dankbarer, dieses pure, authentische Guatemala erlebt zu haben. Es hat mir die Augen geöffnet.

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Nicht falsch verstehen - es gibt, das weiß ich leider aus eigener Erfahrung, leider Umstände, unter denen ein Todesfall unnatürlich, und so unglaublich ungerecht ist, dass sich eine "Feier" falsch anfühlt. Natürlich darf und soll man trauern, das ist notwendig. Wenn man sich aber mit der Eventualität des Todes auseinandersetzt und sich mental darauf vorbereitet, dass es jederzeit passieren kann, wird man vom Stress nicht komplett überwältigt, sondern kann sich voll und ganz auf die Trauer - und das Leben - konzentrieren. Dann kann ein solcher Tag einmal im Jahr ganz bestimmt bei der Verarbeitung helfen. Das entspricht auch den Wünschen vieler alter Menschen. In einer Heidelberger Studie, in der Hundertjährige zu ihren Wünschen befragt wurden, hieß es oft: "Ich sehe jetzt dem Ende entgegen und das ist mir wichtig, dass es in Ordnung verläuft. Kein Gedöns machen, wenn ein alter Mensch stirbt."

Während wir uns auf dem Friedhof fragen, ob wir träumen, selber Drachen steigen lassen, unzählige Fotos schießen (müssen / sollen), läuft im Hintergrund die Vorbereitung für ein weiteres Spektakel: das Festival de Sumpango, auch Festival de barriletes gigantes genannt. Das ist es auch, ein Festival der Giganten. Ich wiederhole mich, wenn ich sage, dass ich so etwas in meinem Leben noch nicht gesehen habe. Nur sind die Emotionen hier im kleinen Fußballstadion auf einem Hügel neben dem Friedhof ganz anders also noch vor wenigen Minuten. Auch hier kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Während wir uns in Gedanken immer noch mit Leben und Tod auseinandersetzen, stehen wir jetzt ein paar Meter Luftlinie weiter, und wirken plötzlich ganz klein. Die Superdrachen sorgen für die ein oder andere Nackenstarre, Hans-guck-in-die-Luft hätte hier seine wahre Freude.

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Der größte Bär der Welt - etwa 20m hoch.

Für die Mayas und Azteken war der Tod der Übergang des Menschen aus der materiellen in die geistige Welt und stellte gleichzeitig einen Neuanfang dar. In Guatemala wird diese Tradition in den unterschiedlichsten Formen fortgeführt. Angefangen beim Besuch des Friedhofs bis hin zum Pilgern aufs heilige Feld, um Drachen steigen zu lassen und zusammen mit Freunden und der Familie zu feiern. Auf diesem heiligen Feld werden wir Zeuge eines farbenfrohen Augenschmauses. Dutzende kleine Drachen schmücken den Himmel. Auf einer Seite des Feldes gesammelt stehen die Hauptattraktionen: die Gigadrachen. Alle Besucher können die "Kites" aus der Nähe betrachten, anfassen und - natürlich - Fotos schießen. Die Darstellungen auf den Drachen sind alle mit der Kultur und Geschichte Guatemalas verbunden. Einige zeigen zeitgenössische Politikkritik, andere sind mit traditionellen Mustern bemalt oder bilden indigine Völker und Traditionen ab. Diese Bilder und Nachrichten sollen mittels der Drachen möglichst nahe an die Verstorbenen getragen werden. Hier richten sich Augen, Arme und Gebete nach oben. Die Drachen, die teilweise mehr als 200 Meter hoch fliegen, sind dabei Übermittler, vertreiben die bösen Geister und tragen die Fröhlichkeit zu den Seelen der Toten. Eine sehr lebendige, bildstarke Tradition, wie ich finde.

Leider fliegen die größten der Drachen nicht. Theoretisch sei das wohl möglich, aber in der Praxis kämpfen schon die kleinsten der Riesendrachen, wir sprechen von 6-7 Metern Durchmesser, arg mit den Windverhältnissen. Von den 20 Drachen, die wir aufsteigen sehen, schaffen es im Endeffekt "nur" fünf - so viele, wie noch nie zuvor.

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Mein Favorit - der mit 22m größte Barrilete des Festivals.

Die ganze Show wird moderiert. Weil die einzelnen Drachen in Kategorien eingestuft sind, in denen sie anhand des Stils, Motivs, Farbwahl und Aussagekraft der Bilder bewertet werden, und es nicht nur um das Drachensteigen an sich geht, führt uns ein quicklebendiger Moderator durch den Tag. Da wir vor Abschluss der Veranstaltung gehen, um nicht mit dem Chicken-Bus im Feierabendverkehr stecken zu bleiben, kriegen wir leider nicht mit, wer gewonnen hat. Dabei sein ist aber eh alles, oder? Wir fühlen uns auf jeden Fall alle wie Gewinner. Im Ohr habe ich während der ganzen Zeit übrigens nicht nur den pausenlos quatschenden Moderator, dessen Stimme im Laufe des Tages immer brüchiger und rauchiger wird, sondern auch eines meiner Lieblingskinderlieder:

Mehr? Gern, hier: https://nebelmeerwanderer.com/

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