Das Blut

in #deutsch7 years ago (edited)

Als ich das erste Mal Erste Hilfe durchziehen musste. Der Erlebnisbericht eines Ersthelfers..............................


Das Blut


Es ist Samstagnachmittag.

Frohgelaunt mache ich mich auf den Weg ein paar Freunde zu treffen. Die Luft ist warm an diesem Tag. Die Sonne glüht in den schönsten Farbtönen. Ihr Leuchten scheint durch die Lücken zwischen den Gebäuden. Kein Wind rührt sich. Die Stadt wirkt enthoben, in einem ewigen Augenblick der Leben spendenden Freude eingewebt.
Aus den Cafés und Biergärten erschallt Lachen und gut gelaunte Gespräche. Pärchen flirten bei einem Glas Wein oder genießen, zurückgelehnt in ihren Sitzen, die sanften Sonnenstrahlen. Es ist einer dieser Tage, an dem jeder wie in Trance ist und ein leichtes Prickeln unter der Haut sitzt. Ein bißchen so … als wäre man beschickert.
Hier in der Innenstadt werden die Gesänge der Vögel nicht von dem Brummen der Motoren übertüncht.

Nachdem ich eine neue Simkarte gekauft habe, setze ich meine Freunde sofort davon in Kenntnis und versende eine Gruppennachricht. Bald darauf treffen die ersten Rückmeldungen ein. Wir einigen uns darauf, uns bei einem ausserhalb wohnenden Freund zu treffen. Dort wollen wir das Wochenende starten und uns auf die Partynacht vorbereiten. Da ich der einzige von uns bin, der ein Auto besitzt, fällt die Aufgabe des strikten Wassertrinkens auf mich. Das macht aber nichts, denn Alkohol ist sowieso überbewertet.

Ich klappe das Handy zu. Mein Blick streift über die flanierende Menschenmenge während ich es in die Tasche der Shorts stecke. Eine kurze Reflexion auf einem Schaufenster blendet mich kurz. Prompt renne ich fast Janina über den Haufen. Nach einer kurzen, aber intensiven Umarmung, verabreden wir uns für später vor der Disco. Schön. Der Abend verspricht gut zu werden.

Leichten Schrittes lasse ich die Innenstadt hinter mir und nach einem schnellen Umtausch von bedrucktem Papier zu anderem bedruckten Papier öffnet sich die Parkhausschranke. Einem sorgenlosen Fahren steht nichts mehr im Weg. Der Verkehr läuft auch sehr gechillt ab. Kein unnötiges Hupen ist zu hören, keine prahlerischen Startmanöver vor auf Grün schaltenden Ampeln. So müsste es jeden Tag sein.

Kaum liegt die Stadt hinter uns, drücken mein Golf II und ich auf die Tube. Endlich mal wieder 54 PS ausfahren können. Herrlich. Fünf Minuten später ist dann auch die Temponadel bei 100 angekommen. Eine leere Landstraße spürt die Power von VW. Von launiger Musik beschallt, rollen die Kilometer unter den Reifen hinweg. Kaum Kurven, breit ausgebaut, bietet sich zwar nicht die Möglichkeit zur Muße aber es lässt sich entspannt dahinfahren.

So vergehen die ersten fünfzehn Minuten auf dem Weg zu den Kumpels. Hinter einem dicht bewaldeten Abschnitt, kommt eine sanfte Linke und das Erste was ich bemerke, sind die grauen Spuren auf dem Asphalt. Wo sie entlanglaufen, wird nach einigen Metern das hohe Gras abrupt unterbrochen. Ich vermute, dass hier jemand vor einem Reh oder ähnlichem gebremst hat. Beim Vorbeifahren sehe ich jedoch das überschlagene Auto auf einer Wiese.

Scheiße!

Sofort steigt Besorgnis in mir auf. Der Fuß geht vom Gas. Ich mache einen langen Hals um zu schauen, ob sich schon jemand um den Fahrer kümmert. Leider befindet sich dort unten auf der Wiese nur das Auto und etwas, dass wie ein Mensch aussieht.In Sekundenschnelle durchspielt mein Gehirn den Ablauf des weiteren Abends: Entweder Party
machen, Lachen und Janina treffen, sich dabei einreden das schon nichts passiert sein wird ODER anhalten und Nachschauen was los ist.

»Würdest du wollen, das jemanden vorbei fährt während du möglicherweise am Straßenrand verreckst?«, fragt mich mein Gewissen. »Vielleicht wollte er auch nur einen schönen Abend verbringen. Und jetzt sieh dir an was ihm passiert ist
»Kein Grund mir Schuldgefühle einzureden, ich hab doch schon längst angehalten«, erwidere ich.

Der Versuch sauber am Straßenrand stehen zu bleiben, endet in einer abgwürgten Karre halb im Gras stehend. Ich atme durch. Was muss ich machen? Was kann ich machen? Erstmal raus und das erste was mir einfällt ist das Warndreieck aufzustellen. Also, renn ich los. Ein schneller Seitenblick überzeugt mich, dass das Unfallauto noch immer an Ort und Stelle verharrt.

Einen eingeklemmten Finger später, steht das Dreiecksding und ich haste zurück. Zum Glück ist die Böschung flach. Mit einer Mischung aus Vorsicht, Schrecken und Helfersmut nähere ich mich dem Wrack. Es ist seltsam still hier auf der Wiese. Dort liegt auch schon der Fahrer. Er bewegt sich nicht. Irgendwas riecht nach verschmortem Gummi und Plastik. Ich muss husten.

Nach ein paar Metern stehe ich über dem Liegenden. Auf Zurufe reagiert er nicht. Das Schütteln an der Schulter weckt ihn nicht auf. Ich sehe mich um, doch niemand ist hier. Niemand ausser mir. Jetzt fangen meine Knie an zu zittern. Krampfhaft durchwühlt ein Teil von mir die Stelle im Gehirn, wo die Erste-Hilfe-Massnahmen abgespeichert sein sollten.
Doch da ist nichts.

Ich fasse mir ratlos an den Hals. Dort pocht es vor Aufregung.
Puls! Fühl den Puls, du Depp!
Ungeschickt grabsche ich dem Bewusstlosen an den Hals. Konzentriere dich. Bleib ruhig.
Das Warten zieht sich hin. Nix. Da wo was rhythmisch sein sollte, ist nur Stille.
Also muss ich ihn … dingsen … ähh …
»Wiederbeatmen«
Genau. Ich lobe mich für einen Moment, das es mir wieder eingefallen ist bevor ich den Fahrer auf den Rücken drehe. Ein älterer Mann. Sein Gesicht ist faltig und er trägt dunkle Klamotten. Seine angegrauten Haare sind mit Dreck verschmutzt. Ein Unbekannter, aber das spielt keine Rolle. Genauso ungeschickt wie ich den Puls gefühlt habe, taste ich in seinem Gesicht herum. Den Mund zu öffnen ist gar nicht so leicht, wenn man vergessen hat wie es geht. Irgendwie drücke ich die Kiefer auseinander.
Ich zögere kurz. Was, wenn ich etwas falsch mache?

Das Handy klingelt. Zuerst reagiere ich nicht auf den generischen Ton. Dann knipst die Leuchte. Zittrige Hände suchen den grünen Knopf. Die Kumpels fragen, ob ich noch Chips mitbringen könnte. Ich stammele irgendwas mit Unfall, was mit Gelächter beantwortet wird. Denken wohl sie werden verarscht. Dann raffen sie es und einer fragt, ob ich schon die Sanis gerufen habe. Nein. Scheiße, hab ich nicht dran gedacht.
Ich drücke die Kumpels weg und wähle die … 110? 112? … 112!


Durchatmen Junge, denke ich mir während mein Blick immer wieder zwischen dem Unbekannten alten Mann und der Straße wechselt. Vielleicht hält noch jemand an. Jemand, der mehr Ahnung davon hat als ich. Mir wird klar, das dies die erste Handlung in meinem Leben ist, die schwerwiegende Konsequenzen haben könnte. Wenn du es nicht schaffst etwas zu tun, dann wird dieser Mann sterben. Tod. Ewigkeit. Nirvana. Als die Bedeutung davon nach mir greifen und in eine Schockstarre versetzen will, nimmt am anderen Ende der Leitung jemand ab.

Sinnigerweise frage ich die andere Stimme ob dies der Notruf ist.
Ja, ist sie.
GOTTSEIDANK!


Die nächsten Minuten bekomme ich Anweisung was zu tun ist, nachdem ich alle möglichen Fragen der Notrufstimme beantwortet habe. Sofort mache ich mich an die Wiederbelebung. Reiße das Hemd des alten Mannes auf und suche den Druckpunkt. Wer glaubt, das sich ein Brustkorb einfach eindrücken lässt: Nein. Zum Glück bin ich kräftig gebaut, kreuze die Hände, strecke die Arme durch und will ans Werk gehen. Prompt rutsche ich ab und lande mit dem Gesicht im Brusthaar des Unbekannten. Macht nix, gibt schlimmeres. Beim zweiten Ansatz funktionierts. Wie oft sagte die Stimme? Fünfzehn Mal pumpen? Fünfzehn, OK. Einmal, zweimal. Der Brustkorb leistet meinen Bemühungen erheblichen Wiederstand. So wird das nichts. Voller Einsatz ist vonnöten. Also lege ich mein ganzes Gewicht in den nächsten Pump. Diesmal klappts. Knochen und Muskeln weichen zurück. Ein erster Erfolgsmoment und ein zartes Lächeln stiehlt sich heimlich auf meine Lippen. Der nächste Pump kommt wieder durch.
Beim nächsten knackt es irgendwo unter meinen Händen. Doch der Fremde rührt sich nicht. Also mache ich weiter … jeder Pump braucht volle Kraft und das Adrenalin schiesst mir durch die Adern. Jetzt fühle ich mich sicher. Jetzt geb ich alles. Instinktiv wechsele ich von stotternden pumpen in einen schnelleren Rhythmus. Über den Fremden gebeugt, läuft mir bald der Schweiß aus allen Poren. Irgendwann habe ich die fünfzehn erreicht. Sicher bin ich mir nicht, denn ich hab mich verzählt. Egal. Was kommt dann?

Beatmen. Kopf zurück und ich nehme ein tiefen Atemzug bevor ich ihn dem Fremden in den Rachen stoße. Auch das ist nicht so leicht. Auch hier leistet der fremde Körper Wiederstand.
Komm schon! Ich mach das nicht aus Spaß! VERFLUCHTERSCHEIßKACKDRECK!
Nochmal das Ganze. Tief einatmen und … nicht vergessen die Nase zuzuhalten. Das klappt schon viel besser. Ein paar Mal puste ich dem Alten in die Lunge, dann muß das Herz wieder massiert werden. Unermüdlich pumpe ich die Arme in seinen Oberkörper… dann wieder Beatmung. Nach mehreren Durchgängen beginnen die Arme lahm zu werden. Doch dann zuckt der alte Mann und stöhnt leise.

JA! GESCHAFFT!

Erschöpft lehne ich mich zurück. Auch mir entringt sich ein Stöhnen und eine unheimliche Last fällt mir von den Schultern. Puh! Das war eine schwere Geburt. Ich gönne mir ein seitliches Herabsinken ins Wiesengras. Die Arme zittern und mein T-Shirt ist durchgenässt. Scheiße, war das anstrengend. Ich hechel eine Runde die Grashalme an.

Dann hör ich ein Röcheln und das Geräusch von irgendwas feuchtem das ausgespuckt wird. Auf die Arme gestemmt, beuge ich mich über ihn und sehe wie der Alte Blut spuckt. Sofort setzt die Verzweiflung ein. Was nun? Flüssigkeit und zurückliegender Hals ist keine gute Kombination.
»Stabile Seitenlage«
Ah ja … genau … oooh, wie ging die nochmal? Bein irgendwie dahin, seinen linken Arm dort? Egal. Ich greife einfach drunter und drehe ihn auf die Seite. Ich versichere mich, dass das Blut ablaufen kann. Gut. Ich fühl nochmal den Puls. Schwach, aber vorhanden. Die Augenlider des Mannes zittern. Ist er wach? Auf der anderen Seite, halte ich mein Gesicht vor seines und versuche mit ihm zu reden. Doch ausser Stöhnen und gelegentlichem Blutspucken passiert nichts.
Die gröbste Arbeit ist wohl erledigt, denke ich mir. Und in dem Moment spüre ich wie jemand nach mir greift und zucke wie eine aufgeschreckte Katze.


»Wir übernehmen ab hier
»Danke«, hauche ich noch bevor ich davonkrieche und mich endgültig ins Gras fallen lasse.


Am Rande meines müder werdenden Bewusstseins höre ich die Sanis arbeiten. Ich will nur noch liegen bleiben. Ein sanfte Brise streichelt mir über das Gesicht. Langsam beruhigt sich der Atem. Ebenso die Anspannung für ein anderes Leben verantwortlich zu sein. Da meldet sich meine Blase … und Durst macht sich bemerkbar. Dennoch muss ich lachen.

Das Leben ist schön.


Addendum:

Die Geschichte trug sich in den 90ern zu. Damals galt die Regel 15/4. Also fünfzehn Mal Herzmassage, dann 4 mal beatmen. Davon ist man heute weg gekommen und es wird nur noch geraten die Herz-Lungen Massage durchzuführen.
Natürlich habe ich viele Fehler gemacht, doch am Ende hat der alte Mann überlebt.
Und das ist was zählt.

Es wäre auch nicht verkehrt, mal wieder einen Kurs beim örtlichen DRK-Verband zu machen. Man weiß nie wann man es braucht oder wann man selber die Hilfe eines anderen benötigt. Ich durfte nach diesem Ereignis noch 3 weiter Male Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführen. Jedes Mal wurde es leichter und danach habe ich auch keine Rippen mehr gebrochen.

Hier habe ich noch ein paar Links für diejenigen die sich mit dem Thema weiterbeschäftigen möchten:

(Bilder von pixabay... leider gab es da keinen roten Golf)

Eine skurrilere Geschichte gefällig?
Dann klicke hier: Niveauvolle Gedanken zum Sargnagelfrühstück

Sort:  

Super hast du das gemacht. Du hast recht, eigentlich sollte erste Hilfe alle 5 Jahre plicht sein.

jo, da stimme ich dir zu. Je öfter man es übt, desto leichter fällt es einem.
Und man Gutes damit bewirken.

Ich denke nicht, dass 5 Jahre da ausreichen :) Eher sowas wie jährlich und selbst das wäre noch zu selten. Adrenalin hat die unangenehme Eigenschaft zuallererst sämtliche Denkprozesse lahmzulegen. Gut wenn du gerade von einem Säbelzahntiger gefressen wirst, ziemlich scheiße, wenn du gerade versuchst wichtige Entscheidungen zu treffen, die logisches Denken erfordern. Das einzige was hilft um den Adrenalinausstoß zu mindern ist Erfahrung mit der Situation. Die bekommt man meiner Meinung nach nur durch üben.

jup, einen kühlen Kopf zu bewahren kann trainiert werden

Wunderbar geschrieben. Danke für's Teilen dieses Erlebnisses.

Bitteschön.
Hatte schon die Befürchtung das der post zu lang wird

Ernste Sache, aber super leichter Text!
Hab ich gern gelesen!

Das mit dem Erste-Hilfe-Kurs ist ein guter Tipp. Vor allem wenn man sich mit sowas eh ein bisschen unsicher fühlt.
Mir hat das gerade mein 12jähriger Sohn wieder gezeigt. Er ist bei der Jugendfeuerwehr und muss das schon lernen.
Jetzt kann ichs auch wieder! ;D

Danke für deinen tollen Artikel! Ich resteem dich mal ;D
Und danke an @leroy.linientreu - über ihn hab ich den Artikel gefunden! Wie immer hat er einen guten Geschmack!

Bin gespannt was du noch so schreibst :)
Auf bald! LG Mo*

Danke für deinen resteem.
Freut mich dass dir mein Bericht gefallen hat und dich angespornt hat.
Ich drücke dir die Daumen dieses Wissen nicht einsetzen müssen.
Aber: Lieber haben und nicht brauchen, als brauchen und nicht haben

Grüß deinen Sohn von mir mit einem "Gut Schlauch"

Gerne.
Ich richte es aus ;D

Richtig gut und spannend geschrieben, toller Artikel!

Die Richtlinien dazu ändern sich ja immer mal wieder, aber im Endeffekt ist in so einem Fall jede Hilfe besser als keine. Gebrochene Rippen gibts dann halt inklusive. In Amerika z.B hätte ich hohe Benken am Ende für etwaige Verletzungen angeklagt zu werden.

Schön, das er dir gefällt.
Es muss auch nicht immer gebrochene Rippen geben. Kommt aber häufiger bei älteren Menschen vor zB wg Osteoporose oder bei denen die aus irgendwelchen Gründen schon mal eine Thorax-Op gehabt haben.

Sehr geil geschrieben, auch wenn es ein dramatisches Erlebnis war. Ich bin froh bisher noch nie in einer derartigen Situation gewesen zu sein.
Solche Berichte wie deiner, tragen aber dazu bei, dass einem die Angst genommen wird und man sich im besten Fall in der Situation an irgendwas erinnert, was man mal gelesen hat.

Vielen Dank.
So eine Situation kann einem schon den Teppich unter den Füßen wegreißen. Selbst wenn man sich an nichts erinnert: Den Notruf verständigen ist das Wichtigste

Sehr schön geschrieben! Hut ab vor deiner Leistung. Ich muss, aus beruflichen Gründen, alle zwei Jahre zum Erste Hilfe Refresh. Das ist eine feine Sache. Aber egal ob geschult oder nicht, das einzige was man falsch machen kann.... NICHTS ZU MACHEN!

Sehr richtig. Zumindest den Notruf absetzen sollte drin sein.
Deswegen hasse ich Scheiß Gaffer die nix machen und nur Fotos schiessen um
auf Twitter&Co. ein paar Likes nachzuhecheln anstatt aktiv zu werden.
Doch noch schlimmer sind diejenigen die Rettungskräfte angreifen. Ich finde,
da sollte der Staat härtere Strafen durchsetzen.

Da gebe ich dir Recht. Habe ich absolut null Verständnis für.

Boah, habe total gefesselt deinen Bericht gelesen. Hut ab, glaube dir gerne dass in dieser Situation erstmal totale leere im Gehirn ist. Ausnahmesituation! Gut, wenn man dann intuitiv das Richtige macht. Klasse!

Es hilft vor allen Dingen ein Gewissen, das einen auf Trab hält.

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