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RE: Die Fähigkeit oder Eigenschaft, mit der wir vieles schaffen können: Resilienz

in #deutsch7 years ago

Talebs dickes Buch Antifragilität steht hinter mir im Regal. Ich hab das Buch zweimal komplett gelesen und komplett exzerpiert, weils einfach genial ist :D

Und ja, prinzipiell beschreibt er mit Antifragilität auch Resilienz, ohne das Wort ein einziges Mal zu erwähnen. Allerdings ist es etwas komplizierter, weil Resilienz in sehr verschiedenen Kontexten erarbeitet wurde und auch eben nicht nur Robustheit bedeutet. Ehm, ja da muss ich wieder etwas ausholen :D
In der Ökosystemforschung gibt es bspw. im Diskursverlauf die technische Resilienz, die erweiterte ökologische Resilienz und die evolutionäre/adaptive Resilienz. Zunächst wurde es als reine Beharrlichkeit/Robustheit verstanden, mit der Stressoren wirkungslos sind. Dabei wurde davon ausgegangen, dass Systeme nur einen einzigen stabilen Zustand haben können. Das trifft für eine gebaute Brücke zu, für Ökosysteme aber nicht, denn dort gibt es multiple stabile Zustände. Ein Ökosystem überlebt trotz der größten Katastrophen, indem der Systemzustand in einen anderen kippt, aber die Funktion an sich beibehalten wird. Die Resilienz ist also nicht einfach Robustheit, sondern die Widerstandskraft zwischen einer Beharrlichkeit und Veränderbarkeit der Systemzustände. Die Resilienz ist dann eine Fähigkeit, mit diesem Spannungsfeld umzugehen. Der evolutionäre Ansatz bezieht sich konkret auf komplexe Systeme und dort wird dann schon davon ausgegangen, dass überhaupt keine Gleichgewichte in den Zuständen existieren, sondern sich die Systeme immer im Wandel befinden. Es passt sich ununterbrochen an die Umwelt an und entwickelt sich so weiter, aber die Kernfunktionen und Strukturen bleiben erhalten.

Taleb sagt ja auch, dass Robustheit nicht das Gegenteil von Fragilität ist. Er bildet die Trias fragil – robust – antifragil.
Wichtig ist dabei die Unvorhersagbarkeit und Ungewissheit über die Zukunft. Zum Verstehen muss man dann immer langfristig denken, nichtlinearitäten beachten usw. Eine Situation ist dann antifragil, wenn die Ergebnisse langfristig trotz zufälliger Störungen immer positiv sind.
Er bezieht sich dann auch auf verschiedene biologische oder medizinische Konzepte. Mithridatisation = Keine Wirkung/Robustheit gegenüber schädlichen Substanzen, Hormesis = positive Wirkung von schädlichen Substanzen, Iatrogenik = negative Wirkungen durch Heiler/Behandlung. Die drei Punkte beziehen sich aber auf der individuellen Ebene. Die Evolution bezieht sich auf das Kollektiv. Ein Einzelner profitiert von den ersten beiden Effekten, bei der Evolution profitiert das Kollektiv, indem einzelne ausgesiebt werden. Evolution ist also auch immer antifragil und braucht ein gewisses Chaos. Systeme gegen Stress abzuschirmen ist darum langfristig immer doof, auch wenn es für die Leute angenehm ist.

Und Resilienz und Vulnerabilität lässt sich auch nicht mehr so einfach betrachten, weil man positive und negative Einflussfaktoren nicht stumpf gegeneinander aufrechnen kann. Bzw. ist positiv und negativ ja auch nur eine subjektive Bewertung. Nur weil jemand einen Einflussfaktor negativ empfindet, kann er ja durchaus positive Wirkungen haben. Und es gibt eben auch nicht nur die Resilienz als Ergebnis des Gesamtsystems, sondern könnte auch immer fragen, resilient gegenüber bestimmte Stressoren oder vulnerabel gegenüber bestimmten Einflüssen, wobei man ja auch wieder nicht weiß, wo die schwarzen Schwäne lauern.

Naja ich schreibe schon wieder viel zu viel... Wieder ein halber Roman für die Nacht.

Das mit der Portfoliostrategie war auch der einzige Finanztipp von Taleb auf über 1000 Seiten. Aber mehr braucht es auch nicht. Wenn man das Konzept verstanden hat, erschließt sich das schon ziemlich intuitiv. Man muss einfach das Risiko nach unten Begrenzen und die Gewinne müssen grenzenlos sein. Während die anderen nach Gewissheit suchen und stets Angst haben zu verlieren, wünscht man sich selbst das Chaos und eine möglichst hohe Dynamik, denn umso mehr Spitzen nach oben und unten, desto mehr profitiert man vom antifragilen Zustand.
Ja vielleicht würde ich da gut performen. Ich bin aber selbst, obwohl ich es besser weiß, ziemlich risikoavers, bin sau schlecht in Mathe und hab leider eh nicht viel Geld :D

Ich find es übrigens total faszinierend, dass wir oft die gleichen Texte gelesen haben, obwohl wir aus mehr oder weniger ziemlich unterschiedlichen Bereichen kommen.

Sort:  

Keiner der großen Fondmanager hat mit eigenem Geld begonnen. Wenn du Heuristiken entwickeln kannst, welche die praktische Unvorhersagbarkeit, bedingt wie du sagtest durch ("Chaos") bzw. die Sensitivität für die Anfangsbedingungen/ den Alpha/ Approximation/... umgehen, dann hast du auch Investoren. Die limitierende Ressource ist Humankapital und nicht die Mathenote oder Geld. Ich sammel einfach mal Ansätze aus deinen Artikeln die ja vermutlich in viele Richtungen streuen werden, dann komm ich auf dich zurück.

Was du zur ökosysthemischen Resillienz sagst, bestätigt meine Annahme
dass man es dann doch formalisiert auf eine Gesetzmäßigkeit wie Fragilität zurückführen kann (Resillienz ist ja wie Hormesis auch nur das Phänomen oder?). Deiner Schilderung zufolge müsste man sich dann aber in den Bereich der Dynamik (im Gegensatz zur Statistik) begeben (und da hätten wir die Dragon King Theorie, den Gegenspieler von Talebs statischer Fragilität und die Blackswans (0 oder 1) gibts bei Dynamik auch nicht)

Der mathematische Sinn hinter Fragilität wäre aber der, das Ökosystem als statische Porzelan-Vase zu modellieren, man reduziert also die Dynamik hinter der Resillienz auf Fragilität... als Heuristik (liegt in der nicht Vorhersagbarkeit des Tippingpoints/Phasenüberganges/Bifurkation begründet, an dem das Ökosystem dann trotz Resillienz doch versagt, bzw. starke Veränderung erfährt wie bei einem Börsencrash oder einer Katastrophe)

ich glaub der mathematische Part wäre doch was für dich
[Taleb und Douady 2012 Mathematical Definition, Mapping, and Detection of (Anti)Fragility https://arxiv.org/ftp/arxiv/papers/1208/1208.1189.pdf]

*Die Vase die zerbricht ist ja auch nur verändert (liegt prinzipiell noch vor), die Definition des Systems ergibt sich also aus der Anwendung, wollen wir es als Dynamisches System modellieren (ein Teich der kippt ist ja nicht wirklich zerstört) oder wollen wir die einfache duale Vase (heile oder nicht heile), Taleb ist für die Vase udn Sornette für den Teich, beim Teich ist Vorhersagbarkeit möglich, da man kein Blackswan (eigentlich "greyswan" im Finanzmarkt) hat.

Uff, na das werd ich mir in einer ruhigen Minute mal zu Gemüte führen. Bei den Formeln steige ich aber aus, weil mir leider einfach die mathematischen Grundlagen fehlen und ich das nicht nachvollziehen kann, wenn die Formeln nicht umfangreich erläutert werden.

Ich bin mir grad nicht sicher, in wie weit man Resilienz formalisieren kann, da es vieles sein kann. Es kann als Fähigkeit verstanden werden, als Einstellung oder Haltung, als Zustand, es kann als das Produkt einer Systemdynamik verstanden werden. Es kann aber auch eine subjektive Zuschreibung oder eine Qualität/qualitative Beschreibung/ emergente Eigenschaft eines Systems gesehen werden.

Die Perspektive spielt da schon eine Rolle, weil irgendwer festlegen muss, was die konkreten Resilienzkriterien eines ganz bestimmten Systems. Und auch die Annahme, dass Resilienz grundsätzlich als gut betrachtet wird, muss nicht zwangsläufig richtig sein. Zuviel Resilienz kann auch schädlich sein, weil es weiterenwicklungen und Veränderungen im Weg steht.
Ein Tagelöhner, der sich von einem Aushilfsjob zum nächsten durchschlägt wäre resilient, erreicht aber eben nicht mehr. Sehr resiliente Kinder sind oftmals distanziert, haben eine zu hohe Affektkontrolle und Bindungsängste. Großkonzerne sind ebenfalls sehr resilient, aber auch meist extrem träge, was Veränderungen und Anpassungen an neue Marktsituationen anbelangt. Ja gut, die kaufen sich dann einfach Startups und Innovationen ein und stoßen ganze Unternehmenszweige ab, was man auch wieder als resilient bezeichnen kann.

Die Startupszene ist ja auch antifragil, aber eben nur auf Kosten der Fragilität der einzelnen Unternehmer. Der Finanzmarkt ist auch antifragil, aber meist auf Kosten der Kleinanleger bzw. der Arbeiter, dessen Leistung auch an die Aktionäre ausgeschüttet wird. Andersrum würden viele Stellen ohne die Investoren nicht existieren.

Also wirklich schwierig. Vielleicht müsste man Formalisierungen dann eher auf spezielle Systeme oder Situationen zuschneidern und auch immer im Interesse der Shareholder/Stakeholder. Man müsste erst einmal anfangen, welche Elemente und Strukturen im System resilient und antifragil sein müssten oder wo Fragilitäten erwünscht sind bzw. auf wessen Kosten. Und auch, wie verschiedene Systeme zusammenhängen, wie sie Wechselwirken, wie sie hierarchisch zu einanderstehen (Sub- und Supersysteme).

  • Bei der Vase, Teich oder meinem Beispiel mit der Brücke ist ja nicht das System, das entscheidet, ob es fragil sein will oder nicht, sondern der Mensch der es nutzt. Dem Planeten interessiert es auch nicht, was wir mit ihm machen. Systeme haben erstmal keinen eigenen Willen oder Interesse, sie sind einfach so wie sie sind.
    Aber die Vase hat im heilen Zustand eine Funktion für den Menschen und wird daher in den Zustand gehalten und abgeschirmt. Der Teich hat auch eine Funktion für die Menschen als Naherholungsgebiet und wird gegenüber möglichen Umweltzerstörungen abgeschirmt und bei der Brücke das selbe. Dabei würden doch aber die Brückenbauer z.B. von nicht ganz so langanhaltenden Brücken profitieren.
    Beim Finanzbeispiel ist man als antifragiler Akteur aber auch daran interessiert, dass das System möglichst dynamisch ist und viele Schwankungen hat, grad weil man gegenüber anderen Akteuren "gewinnen" will.