Studien zur Psychopathologie: Die leere Seele des Westens
Nach einer aktuellen Studie der Barmer Ersatzkasse leiden junge Menschen immer öfter an psychischen Erkrankungen. Jeder vierte Bundesbürger im Alter zwischen 18 und 25 Jahren leide an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken. „Allein in den Jahren 2005 bis 2016 ist die Zahl der betroffenen 18- bis 25jährigen in Deutschland über alle Diagnosen hinweg um 38 Prozent von rund 1,4 Millionen auf insgesamt 1,9 Millionen gestiegen“, verdeutlichte Christoph Straub, der Vorstandsvorsitzende der Krankenkasse.
25,8 Prozent aller jungen Erwachsenen seien im Jahr 2016 von solchen Erkrankungen betroffen gewesen. Und Straub rechnet mit weiteren Anstiegen in den kommenden Jahren: „Es ist davon auszugehen, daß sich die Anzahl der psychisch Erkrankten noch deutlich vergrößern wird.“
Perfektionismus als Ursache
Vor allem auch Studenten, die bislang als relativ gesund galten, leiden immer mehr unter Zeit- und Leistungsdruck. Zu ganz ähnlichen Schlüssen kommt eine britische Studie, durchgeführt von Thomas Curran vom Centre for Motivation and Health Behaviour Change der University of Bath und Andrew P. Hill von der School of Sport an der York St John University. Sie haben herausgefunden, daß junge Menschen heute sehr viel stärker auf Perfektionismus ausgerichtet sind und bei Mißerfolg mit psychischen Erkrankungen reagieren, als dies noch bei früheren Generationen der Fall war.
Curran und Hill weisen darauf hin, daß unter den 42.000 von ihnen untersuchten Studenten aus den USA, Kanada und Großbritannien Depressionen, Angsterkrankungen, Einsamkeitsgefühle und Suizidneigungen zugenommen haben, und sie stellen einen Zusammenhang fest zwischen zunehmendem Perfektionismus und anwachsender Psychopathologie.
Die Historie der akademischen Studien, die diesen Zusammenhang untersucht haben, ist lang. Unter dem Strich kommen sie zu dem Ergebnis, daß insbesondere der selbstorientierte Perfektionismus besonders komplex und verbunden mit psychopathologischen Folgen wie Angst, depressiven Tendenzen und Suizidgedanken sei. Depressive Stimmungen und Suizidgedanken treten aber auch beim sogenannten „sozial vorgeschriebenen“ Perfektionismus auf, aber deutlich geringer.
Der Charakter der Depression
Der Psychologe Hans-Joachim Maaz hat in den vergangenen Jahren wichtige Arbeiten zur Psychopathologie in der westlichen Gesellschaft vorgelegt. Er beschreibt: „Depression entsteht immer bei verhinderter Aggression, insbesondere bei nichtgelebter konstruktiv-aggressiver Selbstentwicklung und Lebensgestaltung.“
Neben der Depression entstehe dabei die „neurasthenische Schwäche“, eine vorzeitige Erschöpfung, heute auch „Burn-out“ genannt. Der Betroffene fühle zwar keine wesentliche Überforderung, habe aber das Gefühl, generell „nicht mehr zu können“, nicht beansprucht werden zu dürfen, nicht mehr leistungsfähig zu sein.
Wo liegt die Ursache dieser gefühlten Leistungsunfähigkeit? Die britischen Psychologen Curran und Hill sehen den Grund ihrer Forschungsergebnisse in einer „neoliberalen Ideologie“, die mit einem konkurrierenden Individualismus einhergehe, der immer mehr von den jungen Menschen verlange.
Der freie Markt verlangt Eigenverantwortung
Eine oberflächliche, auf dem Zeitgeist schwimmende Interpretation. Ein freier Markt verlangt vor allem Eigenverantwortung. Und die kann schmerzen. Doch wurden frühere Generationen etwa weniger herausgefordert?
Der freie Markt beschert vor allem die Chance, Konformitäten abzustreifen. Doch der Grat zwischen Rebellion und Narzißmus ist schmal. Und – es erscheint paradox – er wird desto schmaler, je mehr Güter, Dienstleistungen und Lebensentwürfe dank des Marktes genutzt und realisiert werden können.
Und hier springt die Konsumgesellschaft ins weite Feld. Konsumgüter ermöglichen Auswahl, neue Erfahrungen, Freude. Konsumenten verschaffen sich persönliches Wohlbefinden, Behaglichkeit und Lebensqualität. Eine Lebensqualität, die bald selbstverständlich wird. Ein Lebensstil formt sich, der bald zur sozialen Distinktion transformiert. Das zuerst anscheinend Individuelle wird zur Norm. Wenn junge Menschen sich nicht mehr ohne iPhone in den Hörsaal trauen, wird es gefährlich.
Damit einhergehend erfährt auch die narzißtische Komponente der Seele Kräftigung. Das Individuum will der Gruppe gefallen. Das ist in der Konsumkultur des 21. Jahrhunderts nicht anders als vor drei Millionen Jahren. Und auch heute trägt diese Neigung totalitäre Züge in sich. Doch seelische Leere läßt sich nicht mit Materie füllen. Womöglich liegt hier der Kern der Depressionsepidemie verborgen.
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