Verkehrsunfall in Russland
Unser Verkehrsunfall in Russland liegt nun fast genau ein Jahr zurück, doch erst heute möchten wir Euch davon berichten, denn erst heute haben wir erfahren, dass das alles gut ausgegangen ist. Und solange das alles in der Schwebe war, konnten und wollten wir Euch auch nicht erzählen, was uns passiert ist.
Unser Verkehrsunfall in Russland passierte am 15.11.2019 und wir waren schon sechs Tage in Ulan-Ude, um dort unseren VW Bus „Kittymobil“ technisch auf einen Winter in Sibirien vorzubereiten: wir haben dort eine Planar 2D Standheizung einbauen und Spikereifen der höchsten Güteklasse (gemessen in Spikes pro laufendem Meter) mit extra weicher Gummimischung für arktische Straßentemperaturen montieren lassen.
[caption id="attachment_1117240" align="aligncenter" width="776"] Unsere russische KFZ-Versicherung[/caption]
Wir haben auch Dinge getan, die unter Reisenden kontrovers diskutiert werden und viele besserwissende Sparfüchse gerne anders interpretieren: Weil viele deutsche Versicherungen nur den europäischen und NICHT auch den asiatischen Teil von Russland (und auch der Türkei!) trotz Länderkürzel auf der grünen Versicherungskarte absichern, hatten wir eine zusätzliche russische KFZ Versicherung abgeschlossen. (Hier schreibt z.B. die AXA Versicherung klipp und klar, wie die Sache mit der grünen Versicherungskarte und dem asiatischen Teil der Türkei und Russlands ist: Klartext). Außerdem haben wir, obwohl wir mit dem VW Bus ja unser eigenes Haus dabeihaben, direkt nach der Einreise nach Russland in einem Hotel übernachtet, um die Registrierung durchführen zu lassen.
[caption id="attachment_1117241" align="aligncenter" width="858"] Schwarz auf weiß: so sind die Spielregeln![/caption]
Jeder Ausländer in Russland ist verpflichtet, sich bei Aufenthalten von mehr als 7 Arbeitstagen in Russland und bei Ortswechsel bei jedem weiteren Aufenthalt von länger als 7 Tagen dort binnen der ersten 7 Arbeitstage registrieren zu lassen. Dazu braucht man eine Adresse. Übernachtet man privat, geht man mit dem Gastgeber zum Amt und verplempert viel Zeit. Daher ist das Einfachste, einfach eine Nacht in einer Unterkunft zu buchen und dort um die Registrierung zu bitten. Die Unterkünfte übermitteln die Daten elektronisch und man bekommt beim Check-Out einen Papierschnipsel, der die Registrierung beweist. Diese Registrierung ist kostenlos und geschieht meist sowieso völlig automatisch. Wer Hotel nicht mag, kann auch eine Nacht an einem Truckstop als registrierter Übernachtungsgast verbringen und im eigenen Fahrzeug übernachten. (Tipp: heiße Dusche, WiFi, Waschmaschine inklusive!). Viele Reisende behaupten, diese Registrierung sei unnötig und auch wir sind in der Vergangenheit (wir kommen auf insgesamt eine zweistellige Anzahl Russland-Aufenthalte!) nie danach gefragt worden. Aber im Laufe der Geschehnisse um unseren Verkehrsunfall in Russland haben wir eine steile Lernkurve gehabt: dieser Zettel ist extrem wichtig, wenn etwas passiert! Im Ernstfall kann übrigens eine bis zu 5-jährige Einreisesperre auferlegt werden, wenn man diesen Zettel nicht vorweisen kann. (Falls Ihr den Screenshot nicht lesen könnt, hier der Link zum Auswärtigen Amt.)
Ein Verkehrsunfall in Russland kann immer passieren - haltet Fahrzeug und Papiere in Ordnung!
Wir waren also bestens für „den Fall der Fälle“, den Verkehrsunfall in Russland, vorbereitet: frische Spikereifen bester Klasse, russische KFZ-Versicherung und frischer Registrierungszettel. „Typisch deutsch“ oder „einfach nur die Regeln des Gastlandes befolgt“? Eindeutig Letzteres, wie sich herausstellte.
Wir checkten aus dem Hotel aus, steckten den wichtigen Registrierungszettel in den Pass und wollten zu einem kleinen Biohof am Baikalsee in der Nähe von Irkutsk aufbrechen. Doch vorher noch schnell in den Baumarkt. Ich saß am Steuer. Es war -17°C kalt, die spezielle Gummimischung russischer Winterreifen ist auch bei -40°C noch unglaublich griffig, -17°C fühlten sich auch für uns nach „lauem Wintertag“ an. Im Industriegebiet, wo Baumarkt, Autohäuser und Großmärkte an einer großen Ausfallstraße liegen, fuhr ich auf der linken Fahrspur (von zwei), weil ich mich ein paar Meter weiter vorne in die Linksabbiegerspur einordnen wollte, um über die Straßenbahnschienen auf den Baumarkt-Parkplatz zu fahren.
[caption id="attachment_1117246" align="aligncenter" width="1024"] Saubere Bremsspur. Kittymobil parkt mittig auf dem unsichtbaren Zebrastreifen.[/caption]
Ich fuhr, wie spätere Berechnungen der Polizei ergaben, nur 38km/h, obwohl 50 km/h erlaubt waren. Neben mir hielt ein Kleinbus an einer Bushaltestelle. Plötzlich rannte hinter diesem Bus eine Frau auf die Fahrbahn, um die Straßenbahn noch zu erreichen, die zwischen den beiden Fahrtrichtungsspuren der Straße hielt. Was ich nicht wusste: dort war eigentlich ein Zebrastreifen, jedoch ohne Streifen auf der Fahrbahn, da diese im Laufe der Jahre durch Spikereifen abgefahren worden waren. Die Schilder, die den so unsichtbar gewordenen Zebrastreifen ausschilderten, waren rechts durch den Kleinbus verdeckt und über der Fahrbahn in auch für russische Verkehrsgesetzte viel zu großer Höhe unsichtbar aufgehängt. Als die rennende Frau für mich sichtbar wurde und hinter dem Kleinbus auftauchte, war es zu spät: ich trat in nachträglich mit einem Video berechneter, exzellenter Reaktionszeit von 0,2 Sekunden auf die Bremse, Kittymobil blockierte brav über alle vier Räder und zog eine saubere, 12m lange Bremsspur mit den Spikes in den Asphalt. Die Frau knallte rechts vorne in die Motorhaube, rutsche hinab und blieb vor Kittymobils Schnauze liegen. Kittymobil blieb unverletzt. Nur ein kleines Plastikteil am Blinker bröselte an der Halterung ab. Kittymobil hatte den (seinen ersten überhaupt!) Verkehrsunfall in Russland gut überstanden.
Jan und ich reagierten ungefragt als Team: Jan lief zur Frau, ich holte den erste Hilfe Kasten, positionierte das Warndreieck und fotografierte mit dem Handy geistesgegenwärtig die Situation und KFZ Kennzeichen anwesender Fahrzeuge (macht das besser immer, nicht nur bei einem Verkehrsunfall in Russland oder am anderen Ende der Welt!) und bat den hinter uns fahrenden Autofahrer, Krankenwagen und Polizei zu rufen. Beide trafen umgehend ein. Die Frau konnte laufen, blutete aber aus einer Platzwunde an der Augenbraue ziemlich stark. Während Jan sich weiter um die Frau kümmerte, rief ich beim deutschen Konsulat in Novosibirsk an, um mich über meine Rechte zu informieren. Weil es noch ziemlich früh am Tag war und Novosibirsk in einer anderen Zeitzone als Ulan-Ude ist, erreichte ich dort niemanden. Das gelang Jan dann aber später.
Die Frau wurde mit dem Krankenwagen abtransportiert, ich wurde in das warme Polizeiauto gebeten. Die erste Frage dort galt… dem Registrierungszettel! Die Polizisten waren sehr nett, es kam ein „technisches Team“, welches eine genaueste Skizze des Unfallortes anfertigte und alles millimetergenau ausmaß. Daher wissen wir auch, dass ich 38km/h fuhr. Als die Polizei erfuhr, dass ich Deutsche bin, wurde eine Dolmetscherin gerufen, denn darauf haben Ausländer in Russland einen rechtlichen Anspruch. Bis die Dolmetscherin da war, musste ich einen Alkoholtest und allgemeine Angaben (Registrierungszettel und russische KFZ-Versicherung!!) machen. Erst als das technische Team nach zwei Stunden (!) seine Arbeit beendet hatte, durften wir mit Kittyobil die Unfallstelle räumen und aufs Revier fahren. Kleine Anekdote am Rande: während dieser zwei Stunden Wartezeit, die wir dank neuer Planar 2D Standheizung komfortabel im Kittymobil absaßen, ereignete sich ein zweiter Unfall an gleicher Stelle. Die Polizei war ja schon da, wie praktisch! 😊
[caption id="attachment_1117243" align="aligncenter" width="749"] One Dolmetscherin hätte ich das erstmal nicht unterschrieben :-)[/caption]
Während dieser zwei Stunden erleben wir auch eine Welle der Hilfsbereitschaft: die Sekretärin des Autohändlers, der unsere Planar 2D eingebaut hatte, rief an und bot ihre Hilfe an, da sie zufällig etwas Deutsch sprach. Sie habe eine leerstehende Wohnung, in der wir wohnen dürften. Der Autoteile-Verkäufer, bei dem wir Ersatz für den in der Mongolei von einem entgegenkommenden LKW auf einer Piste zertrümmerten Scheinwerfer bestellt hatten, rief an und bot an, sich um Kittymobil zu kümmern, falls etwas kaputt gegangen sei. Ein deutsch-russisches Ehepaar, welches wir ein paar Tage zuvor auf einem Parkplatz kennengelernt hatten, bot ebenfalls ihre Hilfe an. Das deutsche Konsulat erklärte uns unsere Rechte und ein ehemaliger Arbeitskollege aus Frankreich mit russischen Wurzeln stellte uns den Kontakt zu einer Anwältin in Moskau her, die uns kostenlos rechtlich unterstützen würde. Das alles geschah in zwei Stunden! Klar, ein gelber Blümchenbus, der seit sechs Tagen als einziges Fahrzeug mit ausländischem Kennzeichen durch die Stadt fuhr, war schnell Stadtgespräch. 😊 Ein Verkehrsunfall in Russland macht einen auch zu Fernsehstars: Kittymobil erschien in den Abendnachrichten des Regionalsenders!
[caption id="attachment_1117248" align="aligncenter" width="1024"] Der Kleinbus parkt am unsichtbaren Zebrastreifen und verdeckt das Schild, das auf den Zebrastreifen hinweist.[/caption]
Auf dem Polizeirevier erklärte man uns, dass wir Kittymobil dort lassen sollten, da ein Gutachter die Verkehrssicherheit überprüfen müsse. Wir erklärten, dass wir Kittymobil als Unterkunft brauchten und so war der Gutachter bereit, sofort mit der Arbeit zu beginnen. Ich musste mit dem „Inspektor“ neben mir zum Gutachter fahren. Die Richtungsansagen von der Beifahrersitzbank entsprachen ganz und gar nicht der Beschilderung (kein U-Turn, Abbiegeverbot, dunkelgelbe Ampel…), aber ich bekam klare Anweisung: „go!“ Verkehrsrowdytum unter polizeilicher Aufsicht. 😊 Jan und die Dolmetscherin saßen hinten auf dem Sofa. Dass wir dafür keine Zulassung hatten, wusste die Polizei zwar, aber es war auch egal.
Der Gutachter war sowas wie ein TÜV Prüfer, der quasi „russischen TÜV“ machte. Da der deutsche TÜV gerade 10 Monate alt war, machten wir uns keine Sorgen. Wichtig war der Polizei: funktionierten Lenkung und Bremsen einwandfrei? Waren die Reifen in gutem Zustand / dem Wetter angepasst? Und wie Ihr wisst: ja, wir hatten frische Spikereifen mit einer arktischen Gummimischung aufgezogen. Wir möchten gar nicht darüber nachdenken, was die Herren gesagt hätten, wenn wir die unter Reisenden hoch gelobten All Terrain Reifen oder europäische Winterreifen ohne Spikes und mit europäischer Gummimischung gehabt hätten! Das sollten vielleicht all diejenigen im Hinterkopf behalten, die meinen, ohne Spikes im Winter durch Skandinavien zu fahren. Kann gut gehen. Bis es schief geht und andere Personen zu Schaden kommen und die Haftungsfrage gestellt wird. Der Gutachter hatte nichts zu bemängeln, es ging zurück ins Polizeibüro.
Dort wartete ein Burjate auf uns. Burjaten sind eine ethnische Volksgruppe Russlands, die in der Region in der Nähe der Mongolei wohnen. Sie haben russische Staatsbürgerschaft, leben aber in einer Parallelgesellschaft in ihrer eigenen Kultur und Sprache. Weil Burjaten ein stark mongolisches Aussehen besitzen, ihre burjatischen Namen tragen und „anderes“ Russisch sprechen, sind sie klar von anderen Russen zu unterscheiden. Nicht-burjatische Russen benennen sich selbst als „Russen“ und Burjaten als „Burjaten“. Es herrscht eine sehr klare Trennung mit nur wenigen Überschneidungspunkten. Der Burjate wartete vor dem Büro des Inspektors auf: uns.
Er stellte sich als der Bruder der Verletzten vor und wollte mit uns über Geld reden. Im Wartezimmer der Polizei saß zufällig ein Anwalt, der uns erklärte, in Russland sei es üblich, als schuldiger Unfallverursacher eine „Kompensation“ zu zahlen. Doch wer war hier der schuldige Unfallverursacher? Für den Bruder war die Sache klar: natürlich der nicht-Burjate. Also ich. Außerdem wolle er das Geld für den Krankenhausaufenthalt. Seine Schwester sei genäht worden, habe eine Gehirnerschütterung und das Sitzbein angeknackst. Wir erklärten, falls sich herausstellte, dass wir die volle Schuld am Unfall hätten, seien wir versichert: russische KFZ-Versicherung, deutsche grüne Versicherungskarte, deutsche Haftpflichtversicherung. (Achtung für „Nachahmer“: vor Abreise abklären, ob diese auch weiterhin gilt, wenn der Wohnsitz ordnungsgemäß abgemeldet ist! Mehr dazu: Abmeldung aus Deutschland FAQ). Der Burjate zog ab, wir zogen ins Büro des Inspektors, wo sein Chef gerade dabei war, die Fotos einer Unfallaufnahme am exakt gleichen Ort zu sortieren. Dort knalle es regelmäßig, ließ er wissen.
[caption id="attachment_1117244" align="aligncenter" width="721"] Schaut auf die Uhrzeit...[/caption]
Mittlerweile war es dunkel und der „Inspektor“ hätte eigentlich schon Feierabend, also hieß es, wir sollten nur „mal eben schnell“ die Zeugenaussagen unterschreiben und dann dürften wir mitsamt Kittymobil auch „Feierabend machen“. Doch die bereits vorgefertigte Zeugenaussage deckte sich so gar nicht mit den tatsächlichen Geschehnissen. Wir weigerten uns, zu unterschreiben. Im Laufe der folgenden Stunden passierten viele Dinge, die dem burjatischen Inspektor klar machten: wir hatten uns nicht nur vom Konsulat über unsere Rechte aufklären lassen (er durfte uns also nicht die Pässe abnehmen oder die Ausreise verweigern), sondern wir hatten im Life-Chat auf Facebook die Anwältin aus Moskau auf dem Handy, die uns die passenden Paragraphen in Echtzeit nannte, wenn der Herr Inspektor meinte, Gesetze anders auszulegen (zum Beispiel eine Einzelbefragung verlangte und Jan unrechtmäßig vor die Tür setzte). Je länger der werte Inspektor auf der vorformulierten „Zeugenaussage“ bestand, desto klarer wurde ihm: wenn er irgendwann ins Bett wollte, musste er von vorne anfangen und unsere Zeugenaussagen tatsächlich aufnehmen. Kurz vor Mitternacht waren wir dann fertig und unterschrieben.
Wir sollten uns „bis auf Weiteres zur Verfügung halten“. Es war Freitagnacht und uns war klar: Wochenende, das wird länger dauern. Wir parkten mehr als übermüdet irgendwo am Fluss vor einem Container, fielen völlig erledigt ins Bett und stellten beim Aufwachen fest: der Container war ein Bauwagen und wir hatten Fenster und Türen zu geparkt, aber die Bewohner trugen es mit freundlicher Gelassenheit. 😊Wir nahmen das Angebot von Julia, der Sekretärin des Autohändlers an und schleppten bei mittlerweile -30°C unsere Matratze und Bettzeug in ihre leerstehende Wohnung, wo wir ausgiebig heiß badeten und übernachteten.
[caption id="attachment_1117245" align="aligncenter" width="1024"] Unser Bett in Julias leerstehender Wohnung[/caption]
Montags früh meldete sich der Inspektor: wir sollten vorbeikommen. Überraschung: im Pförtnerhäuschen wartete der Bruder der Verletzten wieder auf uns und wollte Geld. Wir ignorierten ihn, es war alles gesagt, er konnte alle unsere Versicherungsdaten für den Fall dass unsere Versicherung etwas zu zahlen hätte, bei der Polizei erfragen. Übrigens: das grüne Karte Büro in Moskau, die russische KFZ-Versicherung und die deutsche Haftpflicht sicherten uns komplette Deckung zu für den Fall, dass ich haftbar gemacht werden würde.
Der Inspektor wollte, dass ich unterschreibe, dass ich Kittymobil in „einwandfreiem Zustand“ vom Gutachter zurückbekommen hatte und uns die Protokolle und Papiere für die russische KFZ-Versicherung aushändigen. Dann durften wir die Stadt verlassen, er würde sich melden, er habe nämlich die anderen (anhand meiner Fotos identifizierten Zeugen) zu befragen. „Befreit“ fuhren wir endlich Richtung Irkutsk an den Baikalsee.
Unsere Moskauer Anwältin erklärte uns dann, wenn wir vor Abschluss des Verfahrens (und das könne dauern: Neujahr, Weihnachten, allgemeine Arbeitsbelastung und „Motivation“,…) Russland verlassen wollten, bräuchten wir einen Anwalt vor Ort, der von uns mit einer Vollmacht ausgestattet, als Ansprechpartner für die Polizei dienen würde. Sie versprach, uns einen solchen Anwalt in Ulan-Ude zu suchen. Doch das war schwer: ein Anwalt, der Ausländer „gegen“ Burjaten unterstützt, war nicht zu finden. Außer einer. Anastasija, unsere Anwältin, entschuldigte sich schon im Voraus: er könne keine Fremdsprachen außer Russisch. Als ich auf den Kopien der Zulassungspapiere der russischen Anwaltskammer den Namen unseres ortsansässigen Anwaltes las, konnte ich die Bemerkung einordnen: ein Burjate. Na, das konnte ja heiter werden! Aber wir mussten in den sauren Apfel beißen und für Balzhinima, so hieß der Anwalt, eine Vollmacht erstellen.
Diese Vollmacht ließen wir bei einem Notar in Irkutsk ausstellen und per Kurier nach Ulan-Ude bringen. Und jetzt ratet, was wieder das Erste war, wonach beim Notar gefragt wurde? Der Registrierungszettel! Merke: diese Registrierung ist nur dann unwichtig, wenn nichts passiert. Passiert etwas, ist er extrem wichtig. Macht es also besser. Haltet Euch einfach an die Vorschriften Eures Gastlandes. Auch, wenn es für Euch keinen Sinn ergibt.
Ein paar Wochen später kamen wir auf dem Weg in die Mongolei zurück nach Ulan-Ude und lernten den Anwalt persönlich kennen, den wir engagiert hatten. Wir verabredeten uns in der Stadtbibliothek und auf uns wartete ein Burjate in zu großem Jackett, mit fehlenden Zähnen und mäßigen Russischkenntnissen, der mit unserer Vollmacht die Unterlagen zum Unfall ausgehändigt bekommen hatte. Für ihn war die Sache überraschend klar: ich sei voll schuldig und müsse der verletzten Frau Krankenhauskosten und Entschädigung zahlen. Die Polizei habe die Dashcam der Straßenbahn, welche die Frau erreichen wollte, ausgewertet, und die Sache sei klar: ich sei zu schnell gefahren und hätte die Frau einfach umgenietet. Da die Sachlage so eindeutig gegen mich spräche und mich ein Strafverfahren wegen schwerer Körperverletzung erwarte, sollten wir besser gleich mit dem Bruder der Frau eine Summe vereinbaren, mit der dann das Verfahren abgeschlossen sein würde. Bitte was? Das roch doch nach… Burjaten-Gemauschel!
Das Video der Dashcam gab es wirklich, wir bekamen es auch im Polizeibüro zu sehen, aber es zeigte nichts anderes als das, was wir sowieso schon ausgesagt und was auch die Zeugen so bestätigt hatten. Die Frau war für mich nicht zu sehen und ohne zu schauen über die Straße zur Straßenbahn gerannt. A propos Dashcam: wir haben seit Peking auch eine Dashcam. Da diese in Europa aber aus Datenschutzgründen verboten sind, haben wir unsere Dashcam nicht wie alle Russen (und wahrscheinlich 99% aller nicht-EU Bürger) über die Zündung automatisch laufen, wenn der Motor startet, sondern müssen die Kamera jedes Mal per Hand anschalten. Und das vergessen wir oft. Insbesondere bei Kurzstrecken bei Besorgungen innerorts. Daher war unsere Dashcam an dem Morgen leider aus. Da waren wir also zu „deutsch“ und haben uns an deutsche Vorschriften gehalten. Vorrausschauend für die Zukunft gedacht. Für dann, wenn wir irgendwann mal wieder mit Kittymobil in den europäischen Datenschutz-Raum einfahren. Schön blöd! Unser Verkehrsunfall in Russland war dank EU Datenschutz nicht dokumentiert.
Mittlerweile steckten alle Burjaten unter einer Decke: die inzwischen wieder gesundete Frau, ihr Bruder, unser Anwalt und wahrscheinlich auch der Polizist. Der hatte die Sachlage am Unfalltag selbst sehr neutral bewertet, nun schlug er denselben Ton an wie unser Anwalt: wenn wir der Frau eine „Kompensation“ und die Krankenhauskosten zahlen, schließe er die Akte. Der Inspektor war sich plötzlich auch nicht mehr sicher, ob er die Sache nicht vor die Staatsanwaltschaft bringen müsse und gegen mich Anklage wegen schwerer Körperverletzung erheben würde. Aber wir könnten der Frau ja etwas zahlen, damit... Nun ja. Wir zahlten niemandem etwas. Auch nicht dem Anwalt, der uns während unseres Aufenthaltes in der Mongolei vor Ort „vertreten“ wollte. Wir waren schon im Vorfeld so schlau, ihm nur 1/3 der ursprünglich ausgehandelten Summe im Voraus zu zahlen.
Wir nahmen ein weiteres Hilfsangebot an: der Cousin der Ehefrau des Deutschen, den wir Wochen zuvor auf einem Parkplatz kennengelernt hatten, ist der zuständige Oberstaatsanwalt und der sah die Sachlage sehr entspannt: ich solle mir keine Sorgen machen! Ich machte mir natürlich doch Sorgen. Ihr könnt Euch vorstellen: ich zermürbte mich vor Sorge. Ich schlief schlecht. Stress pur. Wochenlang hing ich am Telefon, ließ mir von Versicherungen eine schriftliche Deckungszusage geben (Danke an Stefan für Deine Hilfe!), informierte mich online, telefonierte mit der Anwältin, rannte zum Notar, bat um Hilfe, ließ google translate glühen (meine Russischkenntnisse beschränken sich auf gute Lesefähigkeit und Restaurant- und Markt-Gespräche) und in meinem Hirn rannte ein Karussell im Dauerlauf: Was… wenn…? Strafverfahren? Passentzug? Ausreisesperre? Gefängnis? Ich hatte Angst, bei einer erneuten Einreise nach Russland bei der Ausreise aus der Mongolei vier Wochen später an der Grenze verhaftet zu werden. Doch das deutsche Konsulat in Novosibirsk kümmerte sich und brachte in Erfahrung: kein Grund zur Sorge! Auch der Oberstaatsanwalt sah alles ganz entspannt: kein Grund für Sorgenfalten. Die hatten gut Reden! Meine Nerven lagen blank. Ich habe deswegen sicherlich seit dem ein paar graue Haare und Sorgenfalten mehr... Erst, als wir im Januar 2020 aus Russland nach Kasachstan einreisten, konnte ich wieder besser schlafen. Doch was, wenn wir wieder nach Russland reisen würden?
Vor ein paar Wochen erfuhren wir via WhatsApp über die Cousine des Oberstaatsanwaltes, dass kein Strafverfahren gegen mich eingeleitet wurde. Nun, fast ein Jahr später, erfragte das deutsche Konsulat (allerherzlichsten Dank an Herrn Fesser, der uns immer zur Seite stand!) direkt bei der Polizei den Wahrheitsgehalt aller Indizien und Gerüchte und bestätigte: kein Strafverfahren! Alles gut! Doch wenn es anders gekommen wäre: wir hätten alles richtig gemacht. Hatten immer alle geforderten Papiere in Ordnung und auch das Fahrzeug den russischen Straßenverhältnissen angepasst und in technisch einwandfreiem Zustand. Lasst Euch unsere Erlebnisse eine Lehre sein. Unser Verkehrsunfall in Russland kann Euer Verkehrsunfall in Skandinavien sein. Interpretiert Vorschriften des Gastlandes (Versicherungspflicht, Deckung der grünen Karte, Registrierungspflicht) nicht nach Euren persönlichen Ideen, sondern respektiert sie. Rüstet Euer Fahrzeug nicht so aus, wie Ihr denkt „wird schon gehen“ (AT Reifen, deutsche Winterreifen, keine Spikes, fragwürdige Verkehrssicherheit,…), sondern so, wie es in Eurem Gastland üblich ist (Spikereifen!) und wie bei einem Unfall die Haftungsfrage geklärt werden würde. Bedenkt: auch dann, wenn Euch keine Schuld trifft, können Menschen zu Schaden kommen. Stellt Euch vor, ich hätte noch die deutschen Ganzjahresreifen gehabt und der Bremsweg wäre dadurch länger gewesen…
Steem on und weiter viel Erfolg...
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