No Balm in Gilead
Obacht: dieser Text erfordert Abstraktionsvermögen. Not for the faint of heart.
Vor einiger Zeit beschäftigte ich mich intensiv mit den Büchern (und der Fernsehserie) "The Handmaid's Tale" von Margaret Atwood. Ich war fasziniert von der Ambivalenz, die sie in mir auslösten: einerseits ist die dort geschilderte Gesellschaft, Gilead, im höchsten Grade unfrei, und so leben zu müssen, wäre mir unerträglich. Andererseits wird die Notwendigkeit dieser Unfreiheit wirklich schlüssig begründet, sodass mich immer wieder der Gedanke beschlich, die Architekten dieser Gesellschaft könnten womöglich Recht haben. Mich grauste!
Der fiktive Staat Gilead ist streng hierarchisch organisiert, jede Bevölkerungsgruppe hat ihren Platz und ihre Aufgabe, die nicht frei gewählt werden können; die Rechte der Frauen sind stark eingeschränkt und vorsichtshalber ist ihnen auch das Lesen verboten. So bleiben sie von jeglichem öffentlichen Diskurs, sofern denn einer entstehen kann in Gilead, ausgeschlossen.
Diese strenge, autoritäre Politik wird mit den furchtbaren Folgen der freizügigen Gesellschaftsform begründet, die von Gilead per Revolte abgelöst wurde: massive Umweltzerstörung, Rückgang der Fruchtbarkeit der Menschen durch radioaktive Strahlung (in den 80er Jahren des vergangenen Jh. befürchteten ja tatsächlich viele Menschen eine weitgehende Zerstörung der Umwelt durch den ungezügelten Konsum und die vermehrte Nutzung der Kernenergie) und ein durch den Verlust moralischer (religiöser) Werte verursachter Zerfall der Gesellschaft und des Gemeinwesens. Nur eine Rückkehr zu den Fundamenten der Religion, eine möglichst buchstabengetreue Auslegung der Bibel und eine darauf gegründete Gesetzgebung, so die Logik Gileads, können die Menschen vor dieser Zerstörung und damit vor dem Untergang bewahren.
Warum ist das interessant?
Es gibt eine sehr lesenswerte, aber auch erschütternde Studie, "Sex and Culture" von Joseph Unwin, veröffentlicht 1934, in der er eine starke Korrelation zwischen sexueller Restriktion und der Vitalität von Zivilisationen findet, und zwar kulturübergreifend. In allen Fällen, in denen eine starke Zivilisation unterging, sei diesem Untergang eine zunehmende sexuelle Freizügigkeit vorausgegangen, die jedesmal sehr stark durch die Zunahme an Rechten und Freiheiten für Frauen befeuert worden sei.
Laut Unwin zeichnen sich zivilisierte Kulturen dadurch aus, dass sie am Anfang ihres kulturellen Aufstiegs - neben der vorehelichen Keuschheit - auch auf einer absoluten Monogamie bestanden. Er weist darauf hin, dass keine der von ihm untersuchten Gesellschaften eine absolute Monogamie auf Dauer aufrechterhalten konnte, und dass dies mit der Rolle und den Rechten der Frauen zusammenhing. In jeder Zivilisation habe die absolute Monogamie und die damit verbundene Rechtlosigkeit der Frau letztendlich zu ihrer Emanzipation geführt, die wiederum zeitversetzt mit einem kulturellen Abstieg korrelierte. Unwin betont, dass nicht die Emanzipation der Frauen diesen kulturellen Niedergang verursachte, sondern eine ihrer Folgen, nämlich die Erweiterung der sexuellen Möglichkeiten.
Kurz gesagt stellt Unwin fest, dass das kulturelle Niveau einer Gesellschaft mit der dort etablierten sexuellen Regulierung korreliert, dass der kulturelle Zustand jeder Gesellschaft durch die Beziehungen der Geschlechter zueinander bestimmt wird, dass die Emanzipation der Frauen regelmäßig auch mit einer größeren sexuellen Freizügigkeit einhergeht und dass diese zu einem Verlust an Vitalität und Produktivität der betroffenen Zivilisation führt.
Man könnte daraus folgern, dass es für eine Kultur bzw. Zivilisation tatsächlich besser wäre, wenn Frauen möglichst wenige Rechte besäßen. Holla! Habe ich das wirklich gerade gedacht?
Was diese Studie allerdings zeigt, ist das Dilemma, in dem jede Gesellschaft steckt. Offenbar ist vieles von dem, was wir als Errungenschaft der Aufklärung und der Moderne, ach was, der Postmoderne feiern, für den Fortbestand und die weitere Entwicklung unserer Kultur schädlich.
Wollen wir eine starke Zivilisation, müssen wir auf persönliche Freiheit verzichten. Wollen wir Freiheit, so bezahlen wir sie mit dem Untergang unserer Kultur.
Gibt es irgendwo zwischen absoluter persönlicher Freiheit und einer starken, vitalen Zivilisation ein Optimum, einen idealen Zustand, der möglichst viel Freiheit gewährt, aber die Zivilisation möglichst wenig schwächt? Und wenn, würden wir uns denn freiwillig beschränken, um diesen Zustand zu erhalten? Oder müssen für das Gedeihen unserer Zivilisation freundliche autoritäre Regime unsere Freiheit einschränken, uns quasi zu unserem Glück zwingen? Kann es eine benevolente Diktatur geben, und würden wir sie wollen?
Nein, ich denke, so sind wir nicht gestrickt, wir Menschen. Und haben wir nicht oft genug ausprobiert, eine ideale Gesellschaft herzustellen, und dabei vor allem unsägliches Leid erzeugt?
So müssen wir also sehenden Auges diesen Zyklus von Aufblühen und Untergang von Kulturen, auch von unserer, geschehen lassen.
Ihr Unerschrockenen, die ihr bis hierher gelesen habt: habt ihr Ideen zu diesem Dilemma? Fällt euch ein Ausweg ein?
Links:
https://www.dijg.de/sexualitaet/joseph-unwin-sex-culture/
https://www.kirkdurston.com/blog/unwin
Bild: Wikimedia Commons