Die Zukunft der digitalen Krankenakte
Nach Jahren des Zanks und Stillstands um Einfluss und Standards wird die digitale Krankenakte doch noch Realität, aber anders als geplant.
Die elektronische Gesundheitskarte ist so etwas wie der Flughafen BER der Gesundheitswirtschaft. Lange versprochen, endlos geplant, immer wieder verschoben und doch nie wirklich fertig. Derzeit, so der Plan der Koalition, soll das Paket aus digitalem Versichertenausweis und der elektronischen Patientenakte spätestens 2021 eingeführt sein. Rund 20 Jahre nach Beginn der Planungen. Aber noch ist das nicht mehr als ein – weiterer – Termin.
Und einer, der zunehmend unwichtiger erscheint. Jenseits aller staatlichen Planungen kommt die Digitalisierung des Gesundheitswesens nach jahrelangem Stillstand und Gezänk auf einmal an ganz anderer Stelle in Schwung. Die Angebote kommen in so großer Zahl und mit so vielfältigen Funktionen auf dem Markt, dass sie die staatliche Gesundheitskarte am Ende womöglich in weiten Teilen obsolet machen.
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Am Montag, pünktlich zum Start der IT-Messe Cebit, verkünden die Versicherer DKV, Generali und Signal Iduna in Hannover, dass sie die bestehenden (meist App-basierenden) Info-Angebote für ihre Kunden bis Ende des Jahres um eine elektronische Gesundheitsakte erweitern wollen. „Unsere Kunden verfügen momentan über viele medizinische Dokumente und Daten, die sie nicht ausreichend kennen, verstehen oder nutzen können“, so Mirko Tillmann, Vorstand der Generali-Tochter Central. „Wir geben ihnen nun einen persönlichen digitalen Gesundheitsmanager in die Hand, mit dem sie ihre Gesundheit anbieterübergreifend managen können“, ergänzt Clemens Muth, Vorstandschef der DKV-Krankenversicherung.
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Die neue, kurz eGA genannte, Funktion soll deshalb ein zentraler Speicher für Gesundheitsdaten und -dokumente werden, für Rezepte und Arztbriefe, für Röntgendateien und Diagnosen, für Allergielisten und Notfallkontakte, und alles digitalisiert, erfasst und gespeichert unter der Kontrolle der Versicherten. Künftig wollen die Versicherungen auch Dienste wie einen Check der persönlichen Medikation auf Unverträglichkeiten anbieten. Dabei liegen die Informationen anonym und verschlüsselt in deutschen Rechenzentren des IT-Konzerns IBM, der auch die technische Plattform für das neue Angebot bereitstellt. Wer will, kann die Informationen nach Bedarf für den Zugriff durch Ärzte oder Krankenhäuser freigeben.
Als erster Versicherer hatte im April die Techniker Krankenkasse angekündigt, auf Basis der IBM-Plattform, ihren Kunden ein digitales Archiv für medizinische Unterlagen aller Art anzubieten. Gemeinsam wollen die nun vier IBM-Partner ab diesem Jahr rund 17 Millionen Voll- und Zusatzversicherte mit ihren eGA-Angeboten versorgen.
Die Ankündigung der vier Versicherungen kommt eine knappe Woche nachdem ein Verbund aus 90 privaten und gesetzlichen Krankenkassen angekündigt hatte, mit dem Dienst Vivy ab Juli ebenfalls eine Digitalakte auf dem Markt zu bringen. Der Kreis der Kassen, zu dem unter anderem Allianz, Barmenia, DAK, Gothaer sowie zahlreiche Betriebs- und Innungskrankenkassen gehören, erreicht nach eigenen Angaben rund 20 Millionen gesetzlich und fünf Millionen privat versicherte Kunden.
Über die zu Vivy gehörende App können die Kunden auch Termine verwalten, Ärzte suchen, Daten von Fitnesstrackern erfassen oder sich Tipps für eine gesunde Lebensführung holen. Und auch hier soll die App vor Medikamentenunverträglichkeiten warnen. Selbst ein Import aus den digitalen Patientenakten bei Ärzten soll möglich sein, versprechen die Initiatoren. Ärzte seien verpflichtet, die Daten in einem maschinenlesbaren Format bereitzustellen. Ob das in der Praxis tatsächlich funktioniert, muss sich indes erst noch erweisen.
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Ähnlich wie beim IBM-Modell liegen die Kundendaten auch bei Vivy verschlüsselt auf zentralen Servern, Ende-zu-Ende-verschlüsselt und „TÜV-geprüft“, versichert Daniel Bahr, Ex-Gesundheitsminister und heute Vorstand bei der Allianz Private Krankenversicherung. „Die Versicherten alleine entscheiden, wem sie welche Daten zur Verfügung stellen“, betont Bahr. „Wir als Versicherer können die Daten nicht einsehen.“
70 Prozent der Vivy-Anteile hält die Allianz, der Rest liegt beim Entwickler Christian Rebernik. Der Gründer und Geschäftsführer von Vivy ist in der Digitalwirtschaft kein Unbekannter. Er steckte schon hinter der Banking-App des Fintech-Start-ups N26.
Egal ob IBM-Lösung oder Vivy-Verbund: Wer bei einer der Kassen versichert ist, kann die Dienste und die zugehörigen Apps kostenfrei nutzen. Verpflichtend ist der Dienst nicht. Wer nicht Kunde eines Vivy-Partners ist, kann die App für monatlich fünf Euro abonnieren. Anders als bei der geplanten staatlichen Digitalakte sind die neuen, privaten Digitaldienste auch für Ärzte und Kliniken nicht verpflichtend.
Dass das die Verbreitung der Angebote verhindert, glaubt allerdings keiner der Anbieter. Sie setzen darauf, dass insbesondere jüngere, „digitale“ Zielgruppen die App-Offerten intensiv nutzen. Die Jüngeren, so die Hoffnung der Initiatoren, haben wenig Berührungsängste mit elektronischen Online-Diensten. Nicht nur weniger als die Patientengenerationen zum Start der elektronischen Gesundheitskarte anfangs der 2000er-Jahre, sondern auch als die Dauerbedenkenträger aus Ärzteschaft, Krankenhäusern und Versicherungswirtschaft, die bisher die Digitalisierung verschleppt haben.
Eines, immerhin, wird vom ursprünglichen staatlichen Projekt Gesundheitskarte im neuen Zeitalter der privaten, digitalen App-Akten Bestand haben. Und das ist ausgerechnet der lange umstrittene Austauschstandard für Informationen, den die Entwickler der alten Karte etabliert haben, um Dateien und Dokumente zwischen Ärzten, Versicherungen, Krankenhäusern und anderen Beteiligten – zuverlässig und gegen Mitlesen durch Unbefugte geschützt – übertragen zu können.
Dieses Austauschformat steckt auch bei den neuen Apps unter der Haube und soll es den Kunden erlauben, ihre Datenbestände von einer zur anderen privaten Plattform zu übertragen, wenn sie einmal die Versicherung wechseln. Und sollten auch elektronische Gesundheitskarte sowie die staatliche digitale Gesundheitsakte doch mal irgendwann fertig werden, dann wird es – dank der Austauschsoftware – sogar möglich sein, die privaten Daten dort wieder einzupflegen.
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