Elfte Erfindung | Eleventh invention

Elfte Erfindung

Im Deutschen beginnen viele wichtige Wörter mit dem Buchstaben „W“. Darunter sind nicht nur entscheidende philosophische Begriffe wie Wahrheit, Wirklichkeit, Wissen, sondern auch solche wie Wunsch, Wille, Wert und Würde – und eigenartiger Weise auch so ziemlich alle grundlegenden Fragewörter (wer, wie, was, wo, wann, warum, welche, wozu, wohin, woher, woran, wodurch, wen, wem, wessen...). Darum mag ich das Zeichen „W“, und insbesondere in seiner phönizischen Gestalt. Es bietet mir als Symbol eine reichhaltige Streuobstwiese.

Wiese, Wurm und Wahrzeichen.

Vivienne meint, als zweiter Faktor für Menschenwürde käme möglicherweise – zusammen mit dem schon erwähnten geschenkten Respekt – so etwas wie garantierte Gleichbehandlung in Frage. Der Respekt sei ja ein sozialer Faktor, die Gleichbehandlung dagegen ein juristischer, welcher vom jeweiligen Staat garantiert und durchgesetzt werden müsse. Je schwächer der eine, so der Gedanke, desto stabiler sollte der andere Faktor sein. Ich frage Vivienne, was denn wohl ist, wenn alle beide Faktoren gleichzeitig schwächeln: ist dann die Menschenwürde in Gefahr, ist sie vielleicht sogar abwesend? Und ich frage Vivienne, ob die beiden möglichen Faktoren ihrer Meinung nach die einzigen sind oder ob es weitere geben könne.

Im Café Einstein war es uns zu voll gewesen, stelle ich mir vor, und auch zu laut, darum sind wir nach einem eiligen Espresso umgezogen in das Café Berio in der Maaßenstraße. Wir sitzen draußen, also am Rande des Gehsteiges, und betrachten die Passanten. Etliche scheinen mit ihren vollen Taschen vom nahe gelegenen Markt auf dem Winterfeldtplatz zu kommen. Andere sehen aus wie Besucher, die nur ein bisschen flanieren und den Markt in Augenschein nehmen wollen.

Ich denke, das mit der Gleichbehandlung ist ein wichtiger Gesichtspunkt, sage ich zu Vivienne (so stelle ich mir zumindest vor), aber wir haben noch nicht ausreichend darüber gesprochen, wie juristische, moralische und philosophische Perspektiven zueinander stehen. Lass uns doch bitte mal kurz zu den beiden Achsen ‚Universalität versus Privileg‘ und ‚Globalität versus Kulturraum‘ zurück kehren. Wenn ich richtig verstanden habe, beziehst du die erste Achse auf die Hierarchien in einer Gesellschaft.

Vivienne nickt und greift nach ihrem Milchkaffee. Vor dem Ansetzen an den Mund spricht sie über den Rand der Schale hinweg und sagt so etwas wie: Menschenwürde kann nicht enden an der Mitgliedschaft in einer bestimmten Kaste. Es geht ja nicht um die Wertschätzung zum Beispiel des Adels für andere Adelsangehörige, und es kann im Begriff, in der Idee von Menschenwürde nicht sein, dass ein Mensch von Geburt würdelos sein soll, bloß weil seine Eltern sozial niedriger gestellt sind als andere. Philosophen gehen teilweise so weit zu postulieren“ (ja, ich glaube, sie sagte „postulieren“), „dass ein Mensch diese Würde des Menschen einerseits weder ererben noch verdienen und andererseits weder verlieren noch verspielen kann.“

Also die Gleichheit der Französischen Revolution?, frage ich. „Ja und nein“, darauf Vivienne, „ja, insofern keine/r höher gestellt ist oder sich höher gestellt betrachtet als ein/e andere/r“ (ich habe keine Ahnung und kann mir nicht vorstellen, wie sie dieses Gegendere gesprochen haben könnte, aber ich versuche trotzdem, es mir so zu denken beim Niederschreiben), „und nein, insofern es nicht um Gleichmacherei geht, das siehst du am besten daran, dass Menschenwürde auch unabhängig sein soll und muss von intellektueller Kapazität oder von charakterlicher Größe.“ Schädlinge wie Hitler oder Stalin behalten ihre Menschenwürde? Ich schnappe nach Luft, während Vivienne trinkt.

photo: ty-ty

Eleventh invention

In German, many important words begin with the letter "W". Among them are not only crucial philosophical concepts such as truth, reality, knowledge, but also such as desire, will, value and dignity - and, strangely enough, pretty much all basic question words (who, how, what, where, when, why, which, where to, where from, whereabouts, whereby, whom, whose etc...). That is why I like the sign "W", and especially in its Phoenician form. It offers me a rich meadow orchard as a symbol.

Meadow, worm and emblem. Three words with "W" (in German).

Vivienne thinks that a second factor for human dignity - together with the aforementioned gift of respect - might be something like guaranteed equal treatment. Respect is a social factor, whereas equal treatment is a legal factor that has to be guaranteed and enforced by the respective state. The weaker the one, the idea goes, the more stable the other factor should be. I ask Vivienne what happens if both factors weaken at the same time: is human dignity then in danger, is it perhaps even absent? And I ask Vivienne whether she thinks the two possible factors are the only ones or whether there could be others.

In the café Einstein it had been too crowded, I imagine, and also too noisy, so after a hurried espresso we moved to the café Berio in Maaßenstraße. We sit outside, on the edge of the pavement, and watch the passers-by. Quite a few seem to be coming from the nearby market on Winterfeldtplatz with their full bags. Others look like visitors who just want to stroll around and have a look at the market.

I think the equal treatment thing is an important consideration, I say to Vivienne (at least I imagine so), but we haven't talked enough about how legal, moral and philosophical perspectives relate to each other. Let's return for a moment, please, to the two axes of 'universality versus privilege' and 'globality versus cultural space'. If I understand correctly, you refer to the first axis as the hierarchies in a society.

Vivienne nods and reaches for her latte. Before putting it to her mouth, she speaks over the rim of the bowl and says something like: Human dignity cannot end at membership of a particular caste. It is not a question, for example, of the nobility's esteem for other members of the nobility, and it cannot be in the concept, in the idea of human dignity, that a person should be undignified by birth merely because his parents are socially inferior to others. Philosophers sometimes go so far as to postulate " (yes, I think she said "postulate"), "that a human being can neither inherit nor deserve this dignity of the human being on the one hand, and on the other hand can neither lose nor gamble it away. "

So the equality of the French Revolution?, I ask. "Yes and no ", Vivienne replies, "yes, insofar as no one is higher or considers himself higher than another, and no, insofar as it is not a matter of egalitarianism, which you can see best from the fact that human dignity should and must also be independent of intellectual capacity or of greatness of character. " Pests like Hitler or Stalin retain their human dignity? I gasp while Vivienne drinks.

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