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RE: Otto Wagner: Kirche am Steinhof, Wien (2) / Otto Wagner: Church of St. Leopold, Vienna (2)

in #architecture6 years ago

Hallo Anna,

endlich bin ich dazu gekommen, deinen Beitrag in Ruhe zu lesen. Und es hat sich wie immer gelohnt!

Neben der beeindruckenden Innenarchitektur der Kirche, die du mit deinen Fotos sehr aussagekräftig eingefangen hast, interessiert mich natürlich insbesondere der geschichtliche Hintergrund zum ursprünglichen "Einsatzzweck" des Gotteshauses. Schon irre, welch ganz bestimmt gut gemeinten Gedanken zur Ausstattung des Raumes für das Wohlbefinden der "Geisteskranken" damals herangezogen worden. Traurig unter dem Aspekt, dass genau dieser Klientel nur wenige Jahre ein ganz anderes Schicksal als gut behütete Gottesdienste bevorstand...

Die erst mit Beginn der 80er Jahre entstandenen heutigen "Förderzentren mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung" wurden damals auch schön am Stadtrand gebaut, mit der Begründung, die "Praktisch Bildbaren", die bis dahin überhaupt keinen Anspruch auf Beschulung hatten, bräuchten ihre Ruhe. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, besonders auch, wenn man merkt, dass es auch heute, im Zeitalter der Inklusion, viele Menschen gibt, die in der eigenen Stadt fragen: "Wo arbeitest du? Wo ist das denn?"

Liebe Grüße,
Chriddi

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Hallo Chriddi,

ich erinnere mich, dass in meinem Heimatort die 'Hilfsschule' auch am Rande der Stadt, neben dem Friedhof, angesiedelt war. 'Inklusion' ist ein spannendes Thema. Der Ausdruck 'praktisch bildbar' war mir bisher allerdings nicht bekannt. Vielleicht interessiert dich ein kurzer Überblick über die Entwicklung des österreichischen Sonderschulwesens.

Seit Beginn der 60er Jahre ist bei uns die 'Sonderschule' mit ihren diversen sonderpädagogischen Schulformen (z.B. Sonderschule für gehörlose, für blinde, für sprachgestörte, für körperbehinderte, für schwerstbehinderte oder für erziehungsschwierige Kinder) gesetzlich verankert.

Die Idee, behinderte und nicht behinderte Kinder entsprechend ihrem Entwicklungsstand gemeinsam in Integrationsklassen zu unterrichten, hat erst ab 1993 ihren gesetzlichen Niederschlag gefunden.

Wie so viele gesellschaftlich relevante Themen ist auch dieses zum Spielball der Politik geworden. Während sich die letzte rot-schwarze Regierung im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention für das Auslaufen des Sonderschulmodells bis 2020 ausgesprochen hat, setzt die aktuelle türkis-blaue Regierung auf den Erhalt und die Stärkung des Sonderschulwesens.

Noch ein schönes Wochenende und liebe Grüße,
Anna

Vielen Dank, liebe Anna, für diesen ausführlichen kurzen Überblick (haha, da beißt sich was)!

So ähnlich sah es ja bei uns auch aus und mit meinen Gedanken dazu und dem jetzigen Status Quo könnte ich nicht nur mehrere Artikel, sondern Bücher füllen.

Dennoch ganz kurz: "praktisch bildbar" ist ja schon seit Jahrzehnten politisch nicht mehr korrekt und das ist auch sehr gut so. Diese ewigen Nomenklaturänderungen nerven zwar extrem, aber die Intelligenz, die Talente, die Fähigkeiten eines Menschen bestehen nunmal aus extrem vielen Teilaspekten und dass Menschen mit geistiger Behinderung "nur" praktisch agieren ist schlicht falsch. Sie lernen halt in der Regel eher durch handlungsorientierte Angebote (die meisten Menschen), was im Unterricht eine veränderte Didaktik mit sich führen muss.

Die "Hilfsschulen", später "Sonderschulen", noch später "Lernbehindertenschulen" waren Kindern mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen vorenthalten, die Kinder mit geistiger Behinderung blieben zu Hause oder fristeten ihr Dasein in "Sonderhorten".

Im Zuge der Inklusion (Integration ging noch ganz gut, da hatten Eltern und Schüler die freie Schulwahl, wobei sich die meisten für das Förderzentrum entschieden, denn dort war immer die so wichtige Peer-Group gegeben) wurden in Schleswig-Holstein erstmal alle "Förderzentren mit dem Schwerpunkt Lernen" geschlossen, die Kinder müssen in Regelklassen. Dort funktioniert eines nicht: Das wichtigste Lernziel zu erreichen. Nämlich das die Schüler trotz Einschränkungen ein gesundes Selbstbewusstsein entwickeln, denn sie sind immer die "Versager". Ganz schwer ist es, diejenigen aufzufangen, für die es nur noch einen Ausweg gibt: Das "Auffangbecken" Förderzentrum GE, obwohl keine geistige Behinderung vorliegt. Denen erkläre mal, dass es normal ist, verschieden zu sein...

Das Drama für die Schüler ist tragisch genug, den Hochseilakt der Kollegen, der immer mehr von uns von der Bühne fegt, erwähne ich lieber nicht mehr.

Uuh, off topic?! War nötig, tat gut ;-)

Bis bald, liebe Grüße,
Chriddi

Liebe Chriddi, vielen Dank für deine ausführliche und sehr interessante Antwort!

Ich habe im Gegensatz zu dir keinerlei Erfahrung im schulischen Bereich mit behinderten Jugendlichen, die aus dem Raster der "Normalität" fallen. Wobei ohnehin zu hinterfragen ist, was in diesem Zusammenhang als normal angesehen wird; handelt es sich dabei doch nur um eine konstruierte Vorstellung über den physischen und psychischen Zustand eines Menschen.

Dem Anspruch, alle Kinder, ob mit oder ohne Einschränkung, gleichermaßen optimal zu fördern, kann meines Erachtens eine Regelschule derzeit nicht gerecht werden. Neben Reformen in der Schulorganisation müssen ausreichend finanzielle Ressourcen für die Aus- und Weiterbildung, den Einsatz von zusätzlichen Sonderpädagogen und für bauliche Veränderungen bereitgestellt sowie neue Unterrichtskonzepte entwickelt werden. Lehrer wie Eltern müssen offen für eine konstruktive Zusammenarbeit sein. Inklusion kann nur gelingen, wenn sie von allen Beteiligten gewollt wird.

Dass viele Kollegen sich angesichts der Zustände, mit denen sie sich im schulischen Alltag herumschlagen müssen, das Handtuch werfen, kann ich sehr gut verstehen.

Liebe Grüße und bis gleich in der Kneipe ;-)